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    23.05.64 +++ Rappan-Pokal
    Koninklijke Beeringen FC - Eintracht Braunschweig 2:3

    1965 Beeringen Rahmen.png

    "Preußens General Blücher und Albions Duke of Wellington huldigen Brunsviga, nachdem sie Napoleon bei Waterloo fast im Alleingang besiegte" - Anton Ulrich Bockelmann, 1964

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    Dem Unwissenden sei das kuriose Land Belgien - den Älteren geläufig als Österreichische Niederlande - anhand folgender Anekdote erklärt: Im zweiten Jahr des Großen Krieges, 1915, hatte ich soeben im Gefechtsstand bei Klompjekerk das Verdienstkreuz Zweiter Klasse an Hauptmann Bockelmann vom Braunschweigischen Husaren-Regiment verliehen. Um seine Auszeichnung gebührend zu feiern, fuhren wir gemeinsam per Seitenwagen und Motorrad in die nächstgelegene Stadt: nach Roeselare, in ein Etablissement namens 'De knuffelige Kat'.

    An unserem Ziel angekommen gesellte sich eine unvermählte junge Dame zu uns an den Tisch. Sie stellte sich als Fräulein Loulou vor, ließ sich auf einen Cognac einladen und zündete sich eine Zigarette an. Kaum hatte sie sich ihren Cognac munden lassen, flüsterte sie Bockelmann ein paar Worte ins Ohr. Er machte große Augen, errötete leicht und setzte seine Schirmmütze auf. Er erhob sich von seinem Hocker und bat, gemeinsam mit der Dame für eine halbe Stunde wegtreten zu dürfen. Wegtreten gewährt, Herr Hauptmann. So schritten Bockelmann und Fräulein Loulou dann die Treppe hinauf, weil, so vermutete ich zu jenem Zeitpunkt, aus einem der Zimmer im Obergeschoss der Ausblick auf die Michaeliskirche besonders prächtig sei.

    Kaum hatte ich meinen zweiten Schwenker Cognac geleert, kam zu meiner Überraschung Bockelmann wieder die Treppe hinabgeschritten, doch diesmal ohne Fräulein Loulou. Sein Gesicht war nicht mehr errötet, sondern so weiß wie eine frisch gestärkte Tischdecke in der 'Oude Taverne', wo wir uns jeden Samstag mit anderen Hochrangigen bei Stoofvlees und Genever zu treffen pflegten.

    "Hoheit, ich habe Euch Ungeheuerliches zu berichten", stammelte Bockelmann. "Aber vorher gebt mir Euer Wort, dass Ihr niemandem davon erzählt."

    So hindert mich mein Offiziers-Ehrenwort daran, Bockelmanns Worte an dieser Stelle wiederzugeben. So sei Folgendes lediglich angedeutet: Bockelmann und Fräulein Loulou hatten sich - völlig entgegen meiner Erwartung - zum Zwecke bezahlbarer Liebesdienste zurückgezogen. Doch wo Bockelmann bei der Erkundung des belgischen Terrains den Fluss Maas vorzufinden erwartete - oder La Meuse, wie man im französischsprachigen Teil von Belgien wohl zu sagen pflegt - entdeckte er eine Narbe, an deren Stelle sich zuvor - wie man in Belgiens Hauptstadt wohl zu sagen pflegt - ein Männeken Pis befunden hatte.

    Kurzum: Belgien ist das Fräulein Loulou unter den europäischen Nationen, ein Land der doppelten Gesichter. Überschreitet der Reisende ihre Landesgrenze von Norden kommend, wähnt er sich zunächst weiterhin im vorbildlich protestantischen Holland. Doch bereits nach wenigen Meilen erblickt das Auge allerlei katholischen Hokuspokus, zum Beispiel in Form einer Marienfigur an der Wegekreuzung. Sprechen die Menschen im Norden noch jene uns halbwegs vertraute Variante des Plattdeutschen, lässt uns weiter südlich der befremdliche Klang der Sprache Napoleons sofort nach dem Griff des Säbels tasten. Belgien ist ein Land voller befremdlicher Eigenheiten, das den braunschweigischen Geist stets auf die Probe stellt!

     

    Diese unverblümten Worte werden das erste Kapitel in meinem neuesten literarischen Opus eröffnen, dem "Handbuch der fremden Nationen, in denen unsere Eintracht die blau-gelbe Fahne in den Boden rammte". In wenigen Stunden, am frühen Abend, werden elf Braunschweiger Fußballer zum ersten Mal in der 69-jährigen Vereinsgeschichte einen Pflichtkampf im Ausland bestreiten. Kapitel zwei und drei, über Holland und die Schweiz, werden ebenfalls in diesen Sommermonaten verfasst, wenn die blau-gelben Wirbelwinde bei weiteren Gruppenspielen des Rappan-Pokals in Amsterdam und La Chaux-de-Fonds für Furore sorgen. Das komplette Handbuch gedenke ich zu publizieren, sobald unsere Eintracht in allen 32 europäischen Nationen ihre hohe Kunst des Kickens zelebriert hat, also von Portugal im Westen bis zur Sowjetunion im Osten, von A wie Albanien bis Z wie Zypern. Als Braunschweiger Patriot bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass unser Verein auch in den kommenden dreißig Jahren regelmäßig zu internationalen Expeditionen aufbrechen wird, so dass wir selbst die unbedeutendsten europäischen Nationen bis 1995 alle heimgesucht haben sollten. Ergo wäre mein literarisches Opus pünktlich zum hundertjährigen Vereinsjubiläum der Eintracht in jeder guten Buchhandlung zum Zweck des käuflichen Erwerbs verfügbar.

    "Bockelmann, der nationale Fußballverband traf die bestmögliche Wahl, als er unsere Eintracht für den Rappan-Pokal meldete", rufe ich, auf der Rückbank sitzend, das laute Geknatter unseres Zweitakters übertönend, meinem Adjutanten hinterm Lenkrad zu. "Es gibt keinen anderen Verein, der sowohl auf als auch neben dem Platz eine so exzellente Figur abgibt. Welch größere Sommerfreude kann es für einen niedriggeborenen Habenichts denn geben, als durch einen richtigen Tototipp auf ein internationales Spiel der Eintracht Geld zu gewinnen? Genug Geld, mit dem ein armer Schlucker die erste Rate für ein modernes Haushaltsgerät bezahlen könnte! Zum Beispiel die erste Rate für ein Transistorradio, oder für eins jener neumodischen elektrischen Grammophone!"

    Neun Stunden der pausenlosen Fahrt haben meinen Adjutanten, den Hauptmann Bockelmann, in einen schweigsamen Charakter verwandelt. Ohne zu antworten chauffiert er unseren Opel Puttchen, Baujahr 1917, über die dunkelgrauen Kopfsteinpflaster dieser ostbelgischen Bergbaustadt, auf der Suche nach dem idealen Lokal für unseren Mittagstisch. Ohne die vorherige Einnahme jenes Kristall-Pulvers, einst am Herzoglichen Forschungsamt für Kriegsführung entwickelt, wäre dieser neunstündige Husarenritt kaum möglich gewesen.

    "Da drüben werden sie sich wohl versammelt haben", bricht Bockelmann sein Schweigen, als wir den verwaisten Marktplatz dieser tristen kleinen Stadt passieren. "Dort, im Restaurant de Hert." Das Haus des Hirschen.

    "Parken Sie direkt vor dem Eingang", befehle ich.

    Dermaßen ungestüm tritt Bockelmann auf die Bremse, dass der Schädel seines eingeschlafenen Beifahrers mit dumpfen Knall auf der Karosseriekante unterhalb der Frontscheibe aufprallt.

    "Verhexte Waldaxt!" flucht der durch den Aufprall erweckte Oberfeld, der, nachdem er bereits während der morgendlichen Stunden unserer Reise den gesamten Inhalt seiner Flasche Kräuterlikör konsumiert hatte, wenige Meilen hinter Xanten auf dem Beifahrersitz eingenickt war. Mit gepeinigtem Gesichtsausdruck reibt er sich die schmerzende Stirn. "Bockelmann, du fährst wie der letzte Pantoffelritter!"

    Bockelmann öffnet die Hintertüt des Automobils, so dass auch ich aussteigen kann. Wir betreten die Lokalität, und tatsächlich, an der großen Tafel im Saale befindet sich die von uns an diesem Ort vermutete Braunschweiger Gesellschaft: Stehend mit Glatze und Hornbrille der Herr Advokat, der justament eine Rede hält. Einer der fünf sitzenden Zuhörer ist jener Weißhaarige, dessen quadratische Schädelform seine niedriggeborene Herkunft aus der Provinz Pommern verrät.

    "Eintrachts Vereinspräsident, Doktor Hoppert, und der Leiter der Fußballabteilung, Graßhof", stellt der Oberfeld uns die beiden Herren vor, als ob sie uns nach all den Jahren noch unbekannt wären.

    "Ach, der stellvertretende Hüttenwart unserer vereinseigenen Skihütte im Harz, den alle nur den Oberfeld nennen", unterbricht Hoppert seine Rede, ohne erkennbares Zeichen der Freude. "Und seine beiden Kompagnons, die ihn zu jedem Spiel begleiten..."

    "Dit is de huttenmeester van de eigen skihut van deren club in de Harz, meneer Oberfeld", übersetzt die einzige Dame am Tisch für die drei uns fremden Herren: für den schnurrbärtigen Träger der Bürgermeisterkette, der - wie es in jeder von Kohlestaub verußten Stadt zum guten Ton gehört - im Rathaus gewiss ein Portrait des obersten Bolschewiken Chruschtschow hängen hat; für den schmalen Belgier mit einer jener modischen halbgefassten Brillen, so wie sie von Filmschauspielern auf den Reklameplakaten der Compagnie Rodenstock getragen werden, vermutlich Vereinspräsident des FC Beeringen, vermutlich - wie Hoppert - von Beruf ein Advokat; für den wohlgenährten Belgier mit buschigen Augenbrauen, vermutlich der Spielbetriebsleiter des FC Beeringen, der womöglich vor einigen Jahrzehnten - wie Eintrachts Graßhof - für seinen Verein auf Torejagd ging.

    Wir kommen der Einladung zuvor, uns doch bitte mit an die Tafel zu setzen, indem wir unaufgefordert Platz nehmen. Prompt tritt Bockelmann den Beweis an, dass er sich im Großen Krieg, weit hinter der flanderischen Front, nicht nur mit der Malerei eines geisteskranken Landschaftsmalers namens van Gogh beschäftigte. Nein, er eignete sich auch ein paar nützliche Worte in der Landessprache an: "Meneer!" ruft er dem Kellner zu. "Breng ons acht Jenever, een Verpoorten voor de Dame, drie Bieren en drie Platen Stoofvlees!"

    "Jawoll, Stoofvlees, lecker Schmackofatz", freut sich der Oberfeld. Erwartungsvoll die Hände reibend wendet er sich seinem Tischnachbarn, dem pommerschen Bauernspross Graßhof zu: "Ist mein Sportsfreund aus der Skiabteilung, Balduin Fricke, heute nicht hier? Sehr schade! Mensch, Graßhof, ich werde nie vergessen, wie du damals in Hamburg freistehend vor dem Tor auf den Arsch fielst, weil der Flankenball einen Meter vor dir im Schlammloch stecken blieb!"

    Der angesprochene Spielbetriebsleiter starrt mit einer Melange aus Scham und Grusel auf die Stirn des Oberfelds, wo sich in den Minuten seit Bockelmanns Bremsmanöver eine stattliche Beule gebildet hat.

    "Meneer Oberfeld zal nooit vergeten hoe Meneer Graßhof op zijn kont viel...", beginnt die Übersetzerin.

    "Der Ausrutscher im Schlammloch, das muss 1924 gewesen sein", ergänzt Bockelmann, dem aus vielerlei Gründen - die lange Autofahrt, die nachlassende Wirkung des Kristall-Pulvers, die Wärme im Lokal - die Augenlider plötlich schwer werden. "Auswärts bei Union 03 Altona... Endstand 4:1... für Eintracht."

    "Hoppert, verzeihe Er, wir wollten Seine Rede nicht unterbrechen", wende ich mich an Eintrachts Präsidenten, der seit dem Moment unserer Ankunft sprachlos verdattert vor seinem Stuhl steht. "Fahre Er doch fort mit Seiner feierlichen Ansprache. Wir sind alle sehr gespannt."

    Hoppert schüttelt kurz den Kopf, atmet durch und beginnt weiterzureden. Er erzählt von freundschaftlich nachbarlichen Beziehungen zwischen den Staaten Westeuropas in den letzten zwanzig Jahren; vom Dialog zwischen Belgiern und Deutschen; vom Auftrag des Sports, die Jugend grenzübergreifend zu friedliebenden Menschen zu erziehen; von seiner Vorfreude auf den Besuch der belgischen Gäste in Braunschweig in der übernächsten Woche. Mevrouw Ingrid, wie das Fräulein von den Belgiern genannt wird, übersetzt Hopperts ermüdendes Palaver. Endlich - in der seit der Bestellung verstrichenen Zeit hätte Napoleon Sankt Helena zu Fuß umrunden können - werden Schnäpse und frisch gezapfte Biere serviert. Der Kellner stellt Bockelmanns Getränke neben dessen Kopf, der seit Minuten schnarchend auf dem Tische ruht.

    "Aufwachen, Herr Hauptmann!", ruft der Oberfeld, nachdem er seine geleerten Bier- und Schnapsgläser gegen Bockelmanns volle Gläser ausgetauscht hat. "Gleich berichtet der Herr Präsident, dass Eintrachts Finanzbeirat die Anschaffung von zehn Pingpong-Bällen im kommenden Jahr genehmigt hat. Das willste nicht verpassen!"

    Nachdem das Mittagsmahl serviert und verzehrt wurde, will leider keine ähnlich wohlgemute Stimmung aufkommen, wie sie während des Großen Krieges an unserem Tisch in der 'Oude Taverne' üblich war. Der abwesende Vizepräsident Balduin Fricke hätte mit Sicherheit ein paar Lieder zum Besten gegeben. So schweigen sich Eintrachts Offizielle und die drei belgischen Gastgeber an, als Zigarren gereicht werden. Der Oberfeld inspiziert seine schmutzigen Fingernägel, während das Haupt des eingeschlafenen Hauptmanns weiterhin friedlich auf der Tischplatte ruht.

    Da verbissene Schweigsamkeit am gemeinsamen Tisch auf internationalem Parkett als unhöflicher Affront gilt, beschließe ich das Eis ein wenig zu brechen. Schließlich ist es auch meine Aufgabe, Braunschweig in fremden Ländern glänzend zu repräsentieren.

    "Ich, Hauptmann Bockelmann und der Oberfeld, wir haben Belgien schon mal besucht", bemerke ich daher, als das brennende Zündholz meine Zigarre entflammt. "Und zwar vor genau fünfzig Jahren. Im August 1914. Ein Datum, dass den anwesenden Herren sicherlich etwas sagt."

    Drei Paar belgische Augenbrauen werden interessiert hochgezogen, während Fräulein Ingrid übersetzt.

    "Braunschweigisches Husaren-Regiment. Zunächst spazierten wir durch den Verteidigungsring um Antwerpen. Erst hinter Ypern hielt uns dann der Brite auf."

    Beunruhigt starren Hoppert und Graßhof mich an.

    "Keine Sorge, meine Herren. Die folgenden zwei Kriegsjahre verbrachten wir in der Villa Marie - eine Pension, in der wir mit kriegsgefangenen britischen Offizieren Karten spielten und am Kamin Pfeife rauchten. Ich kann mich nicht entsinnen, dass auch nur einer von uns drei anwesenden Herren einem einzigen Belgier jemals ein Haar gekrümmt hätte."

    Erleichtert werfen Hoppert und Graßhof sich einen kurzen Blick zu.

    "Also mir wurde in Belgien ja das Verdienstkreuz Zweiter Klasse verliehen", äußert sich Bockelmann, als er unvermittelt aufgewacht und sich zum Sitzen aufgerichtet hat, und zunächst verwundert die leeren Gläser und den vollen Brotbeutel mit längst erkaltetem Stoofvlees betrachtet. Das erwähnte Verdienstkreuz Zweiter Klasse hatte Bockelmann sich im Übrigen verdient, indem er, in seiner Rolle als Versorgungsoffizier, für unser Bataillon die größte Ration Pfeifentabak pro Offizier an der gesamten Westfront zu beschaffen vermochte.

    "Das Verdienstkreuz wurde mir verliehen", berichtet der soeben Erwachte, "weil ich hunderte von Feinden im Nahkampf tötete. Wenn man abends an meinem Bajonett leckte, schmeckte es stets nach belgischem Blut."

    "Bruharhahahar!" lacht der Obertfeld angesichts dieser grotesken Phantasterei. Hoppert und Graßhof - unsicher ob des Wahrheitsgehaltes von Bockelmanns Behauptung - vergessen für einen Moment zu atmen.

    Zigarrenrauch steigt sanft auf, als am anderen Ende des Tisches drei Belgier mit versteinerter Miene Fräulein Ingrids Übersetzung lauschen: "Als Bockelmann avonds aan zijn bajonet likte, smaakte het altijd naar Belgisch bloed."

    "Bockelmann", sage ich. "Vier Kriegsjahre lang leckte niemand an Ihrem Bajonett, weil es eingeschlossen im Spind zehn Kilometer hinter den Schützengräben auf seine Feuertaufe wartete."

    "Bockelmann", sagt der Oberfeld. "Dein einziges Bajonett, an dem während des Krieges vielleicht geleckt wurde, ist das Fleischbajonett in deiner Unterhose, wenn du das Bordell in Roeselare aufsuchtest. Einmal übersetzen bitte, Fräulein Ingrid! Ach, à propos: Bockelmann, erheitere diese fröhliche Runde doch bitte mal mit der Geschichte von der Feier deines Verdienstkreuzes Zweiter Klasse. Weißte noch, das Fräulein mit dem kleinen Loulou-Mann im Schlüpper? Wie hieß sie doch gleich?"

    "Woher zum Henker kennst du die Geschichte vom Fräulein mit ...?"

    Doch bevor Bockelmann seine Frage ausformuliert hat, schwingt plötzlich die Tür zu unserer Lokalität auf, und ein Mann mit Droschkenfahrermütze sagt Worte, von denen ich "zeven uur", "twee Taxi's" und "voor de Eregasten van de FC en uit Duitsland" zu verstehen vermag.

    Der Oberfeld reagiert am schnellsten, springt auf und ruft zum Abschied "Vielen Dank für Speis und Trank!" in Richtung unserer belgischen Gastgeber.

    Noch bevor ein Napoleonischer Infanterist seinen Vorderlader mit einer Kugel hätte schussbereit machen können, sitzen wir bereits zu viert - den Fahrer mitgezählt - in einer der beiden georderten Droschken.

    "Zum Stadion", befehle ich, "Naar de Mijnstadion", übersetzt Bockelmann.

    "Bis später, die Herren Hoppert und Graßhof!", ruft der Oberfeld, bei unserer Abfahrt den verdatterten Offiziellen aus Braunschweig und Beeringen zuwinken, die erst in diesem Augenblick durch die Tür des 'Restaurant de Hert' getreten kommen. Fünf Offizielle plus Fräulein Ingrid, auf die nun leider nur noch eine Droschke wartet.

    Über holpriges Kopfsteinpflaster werden wir entlang düsterer Reihenhäuser chauffiert, bis in der Ferne schon der Förderturm der Kohlemiene zu erkennen ist. Dutzende Menschen, die Knaben in kurzen Hosen, sind zu Fuß in Richtung Stadion unterwegs. Wie froh diese Unseligen doch wären, wenn sie das Elend an diesem Orte gegen ein Leben auf einem Rübenfeld in meinem Herzogtum tauschen könnten! Die besonders Tüchtigen könnten sich im Eisenerzbergwerk von Lengede verdingen, wo sich in diesem Kalenderjahr - anders als im letzten Jahr - noch kein Klärteich in der Grube ergossen hat.

    Unsere Droschke biegt nach links von der Straße ab und hält vor einer langen Backsteinfassade, der Rückseite der Tribüne. Ein wohlgenährter Knecht im Dienste des Vereins, dem Augenschein nach ein ehemaliger Preisboxer, öffnet die Seitentüren. Wir steigen aus und drücken ihm unsere während der Fahrt geleerten Biergläser aus dem Restaurant de Hert in die Hand.

    "Het is de President van Eijntrakt Brunswick, Meneer Doktor Hoppert“, stellt Bockelmann mich vor. "Het is de Oberfeld, en ik bin Meneer Graßhof."

    Missmutig mustert der korpulente Belgier unsere Husarenuniformen, dann geleitet er uns durch den Eingang zu den Ehrenplätzen. Wir besetzen die rot lackierten Holzstühle auf Höhe der Mittellinie mit den Namenskarten 'Dr Hoppert', 'Graszhof' und 'Eintracht III'. Wir lassen uns vom Vereinsknecht drei Flaschenbiere und Sitzkissen bringen, mit denen wir es uns auf den Stühlen gemütlich machen.

    "Auf das Herzogtum und auf die Eintracht, meine Herren!"

    "Auf das Herzogtum und auf die Eintracht, Hoheit!", antwortet Bockelmann.

    "Wohlsein", antwortet der Oberfeld.

    Das Bier, das man uns reichte, schmeckt sonderbar malzig.

    "Oh, wie wohl das Bier hier mundet", befindet Bockelmann. "Welch feines Gebräu mit leichten Aromen von Holz, Kräutern und Kohlestaub."

    "Das ist kein Aroma von Kohlestaub", widerspricht der Oberfeld. "Wissen die Herren, warum nach der Schlacht von Waterloo kaum sterbliche Überreste der Gefallenen gefunden wurden? Weil die einheimischen Bauern sofort die Toten einsammelten, um die Knochen in der Mühle zu zermahlen. Wir hatten zu Hause in Wiebenbüttel übrigens auch eine Knochenmühle. Das Knochenmehl ist ein wunderbarer Dünger für unsere Rübenfelder. Und hier, in Belgien, ein wunderbarer Dünger für die Gerste, aus der das Malz für dieses Bier gemacht wird."

    Schmatzend testet der Oberfeld den Geschmack eines weiteren Schluckes Bier.

    "Also neben leichten Aromen von Holz und Kräutern schmecke ich hier ganz klar Knochenmehl von einem syphilliskranken Hauptmann der französischen Infanterie."

    "Ich glaube, dein Bier schmeckt nach Knochenmehl von einem inzüchtigen Oberfeldwebel der Hannoverschen Kavallerie", entgegnet Bockelmann, sein Eintracht-Fahrtenbuch aus dem Revers seiner Attila ziehend.

    "Der FC Beeringen ist der hundertvierundzwanzigste Verein, bei dem wir unsere Eintracht auswärts spielen sehen", erklärt mein Adjutant, eine neue Zeile per Bleistift im Fahrtenbuch ausfüllend. "Man stelle sich vor, Napoleon wäre vierzig mal zu Pferde von Paris nach Moskau und wieder zurück geritten. Dann hätte er ungefähr die selbe Anzahl an Meilen zurückgelegt, die wir einschließlich des heutigen Tages zu Auswärtsspielen der Eintracht gefahren sind."

    Nicht ganz so weit war die Anreise für die paar Tausend Einheimischen, die heute in dieses enge Stadion gepilgert sind, um unsere Löwen in ihrer leibhaftigen Größe erleben zu dürfen. Applaus brandet auf, als beim Einlauf der beiden Mannschaften die Noblesse der Eintracht-Trikots für alle sichtbar wird, mit den feinen blau-gelben Längsstreifen und dem roten Löwen als Wappentier. Farben und Formen in einer Schönheit, die das Lumpengesindel in diesem Ort wohl nur selten erblicken durfte. Welch ein Kontrast zur schäbigen roten Uniform des belgischen Vizemeisters, mit aufgenähten weißen Quadraten, auf denen die Rückennummern der Spieler stehen.

    "Die laufen ja in Trikots rum, wie man sie in England nur beim Hunderennen sehen würde", konstatiert Bockelmann kopfschüttelnd.

    Die Mannschaftsaufstellungen werden verlesen. Die Belgier treten in der Abwehr mit einem Spieler namens Pooters und im Angriff mit einem Spieler namens Peeters an. Mehr braucht ein vernünftiger Mensch über unseren Gegner nicht zu wissen.

    "Hergott, lass uns nicht verzagen, müssen heut die Belgier schlagen", murmelt Bockelmann, mit gefalteten Händen im Gebet versunken. "Braunschweig heute triumphiert, und morgen bis Paris marschiert. Amen!"

    Direkt ab Anpfiff kommt Beeringen aus dem Graben gesprungen, als wolle man ganz Belgien revanchieren für die Niederlage gegen Braunschweigische Truppen vor genau fünfzig Jahren. Obwohl mit einigen kaum bewährten Reservisten angetreten, demonstriert Eintracht bereits in den Anfangsminuten, wie ein Verteidigungsring erfolgreich gebildet wird. Eine gute halbe Stunde lang hält Eintrachts Bollwerk, doch dann passt Pooters auf Paaters, der unerfahrene Halbverteidiger Saalfrank lässt seinen Gegner Piiters laufen, dieser kickt den Ball zum mitgelaufenen Puuters. Jubel brandet auf im Stadionrund, als dieser den Ball hinter Eintrachts Goalwart Jäcker im Netz einschlagen lässt.

    "Verdammte Heckenhacke!" flucht der Oberfeld. "Ich geh nochmal drei Flaschen Freibier für Ehrengäste der Sorte Knochenbräu holen."

    Vorbei an noch unbesetzten Stühlen im Ehrengastbereich verschwindet der Hauptfeld Richtung Getränkestand. Kaum ist er hinter der Tribüne verschwunden, als ein weiterer Reservist der Eintracht, Weschke, mit dem Ball am Fuß auf dem tiefen Geläuf Galopp aufnimmt. Pijters hechelt verzweifelt hinterher - wie ein hannoverischer Kavallerist, der sein Pferd beim Kartenspiel verloren hat - doch er kann Weschke nicht stellen. Seine Flanke findet Eintrachts Halbrechten Hosung, der nach geschickter Annahme des Balles denselbigen ins Tor der Belgier kanoniert.

    "JAAA!" jubelt Bockelmann. "Heute lernt der Belgier seine Lektion!"

    Mein Adjutant zückt sein Eintracht-Fahrtenbuch und macht eine Notiz. "Hoheit, soeben wurden wir zum 1.335ten Male Zeugen eines Auswärtstores der Eintracht", informiert er mich. "Gleichzeitig war es Auswärtstor Nummer 281, das der Oberfeld aufgrund von Bier holen, übermäßiger Trunkenheit oder wegen eines Aufenthaltes im Polizeigewahrsam trotz ordnungsgemäß erfolgter Anreise versäumt hat."

    An dieser Stelle sei erwähnt, dass wir Drei - ich, Bockelmann und der Obertfeld - bei allen Pflichtspielen in der Fremde seit Gründung des Vereines anno 1895 zugegen waren. Nach der Revolution von 1918, als der falsche Herzog von Braunschweig auf den Thron verzichtete und die Sozialisten einen Freistaat ausriefen, fanden wir drei Herren Unterschlupf in einer Jagdhütte am Südhang des Harzes, unweit der sogenannten Hexenquelle. Einer alten Überlieferung zufolge soll das Wasser der Hexenquelle unsterblich machen, was selbstredend dummes Geschwätz ist.

    "Winger Weschke wird weiterhin einen Stammplatz sicher haben", prognostiziere ich aufgrund des Spielzugs, der soeben zum Tor der Eintracht führte. "Wie schon in der letzten Halbserie, als er den erkrankten Gerwien vertrat."

    Im vergangenen Winter köderte Herberger, der noch amtierende Trainer der nationalen Auswahlmannschaft, Braunschweigs Rechts-Winger Gerwien für Wettkämpfe im fernen Nordafrika - einer unwirtlichen Region, so sehr von Gelbfieber und Malaria geplagt, dass vor wenigen Jahren sogar die französischen Kolonialherren flohen. In einem typischen Komplott der Preußen gegen Braunschweig - nicht zufällig spielt die sogenannte Nationalmannschaft seit anno 1908 in den preußischen Farben weiß und schwarz - werden Braunschweiger Spieler bevorzugt für Reisen in gefährliche Regionen einberufen. Prompt fing Winger Gerwien sich in Algerien eine langwierige Erkrankung ein.

    "Fürwahr, Hoheit. Wusstet Ihr, dass Lothar Weschke in der kommenden Saison auch zu Eintrachts Vertragsspieler-Kader gehören wird? Nur noch vormittags wird er dann einem Beruf nachgehen. Nachmittags kann Weschke dann an jedem Mannschaftstraining teilnehmen - also dreimal pro Woche!"

    "Potztausend", antworte ich. "Bei einem Bundesligisten wird gleich dreimal pro Woche trainiert?"

    "Zumindest bei der Eintracht, Hoheit. Montags zwei Stunden Konditionstraining, Mittwochs zwei Stunden Lauftraining, Freitags zwei Stunden Gymnastik. Überlegt mal, welch ein noch besserer und noch flinkerer Fußballspieler Weschke durch dieses regelmäßige Training werden kann! Ich lege mich fest: Gerwien - sofern er das Franzosenfieber überwunden hat - und Weschke bilden in der kommenden Saison Eintrachts Flügelzange."

    "Eintracht bemüht sich sogar noch um einen weiteren Flügelspieler", unterbricht uns ein ungepflegter Mann in Feldgrau, mit Beule auf der Stirn, der sich mit mehreren Bierflaschen unterm Arm durch die Sitzreihe drängelt: der Oberfeld. Er ist kraft seines Amtes als stellvertretender Hüttenwart von Eintrachts Skihütte im Oderbruch - nur wenige Meilen von unserem wäldlichen Zuhause entfernt - stets gut über Interna im Verein informiert. "Trainer Johannsen will Saarbrückens Linksaußen unbedingt verpflichten. Ein Spieler namens Erich Maas, wenn ich mich recht entsinne."

    Erich Maas? Eric La Meuse, wie man im halbfranzösischen Saarland wohl sagen würde.

    "Wir werden in der kommenden Saison also eine furchterregende Angriffsformation im Trikot der Eintracht sehen", verfällt Bockelmann nach Ertönen des Halbzeitpfiffes in Fachsimpelei, leere Bierflaschen in taktischer Anordnung auf dem Boden hin- und herrückend: "Krafczyk, der neue Innenstürmer. Moll rückt aus dem offensiven Zentrum nach halblinks. Halbrechts spielt dann Schrader. Eventuell Dulz. Wohl kaum der Neue, der von der Arminia vom Bischofsholer Damm verpflichtet wurde."

    "Lothar Ulsaß?" fragt der Oberfeld.

    "Genau. Lothar Ulsaß. Wären in der Bundesliga Einwechslungen gestattet, würden wir Ulsaß vielleicht gelegentlich in der zweiten Spielhälfte spielen sehen."

    "Und vergessen Sie nicht einen weiteren Kandidaten für Eintrachts Angriffsreihe", mahne ich. "Wuttich, den Veteran unseres größten Triumphes der vorletzten Spielzeit. Schütze des goldenen Tores auf des Feindes Scholle, in der Eilenriede! Unser Held, der Eintracht für Eintracht das Tor zur Bundesliga öffnete und Sechsundneunzig hoffentlich für alle Zeiten ins Sankt Helena namens Regionalliga Nord verbannte!"

    Anders als in der Bundesliga scheint der Einsatz von Reservisten im Rappan-Pokal zulässig zu sein: Anstelle von Schrader betritt der eben noch erwähnte Wuttich nach dem Pausentee den grün-braunen Acker. Welch kurioser Anblick, einen Fußballspieler mit der Rückennummer 12 auflaufen zu sehen, obwohl doch bekanntlich pro Mannschaft nur elf Mann auf dem Platz stehen!

    "Man stelle sich vor, Napoleon säße hier im Stadion," scherze ich. "So wie gemäß des französischen Revolutionskalenders die Uhr nur noch zehn statt zwölf Stunden haben sollte, würde Napoleon beim Anblick einer Rückennummer 12 sofort das Dezimalsystem in den Fußballregeln, die der Braunschweiger Lehrer Konrad Koch der Welt schenkte, einführen. Eine neue Regel würde lauten: Ab dem Jahr eins nach der französischen Revolution sollen sich auf dem Fußballfelde pro Mannschaft nur noch zehn Kombattanten gegenüber stehen."

    "Welch köstliche Vorstellung, Hoheit!" antwortet Bockelmann artig lachend. "Ab sofort gelte: Das Spiel dauert hundert Minuten."

    Der Oberfeld, überfordert von den feingeistigen Apperçus der Herren Offiziere, rollt bloß mit den Augen und hält seine Bierflasche kühlend an die Beule auf seiner Stirn.

    Während Oberfelds Vorfahren vermutlich an Alkoholvergiftung oder an der Schwindsucht zugrunde gingen, fielen zwei meiner Ahnen ehrenhaft im Kampf gegen Napoleon: mein Urgroßvater, Herzog Karl Wilhelm Ferdinand, starb wenige Tage nach der Schlacht bei Auerstedt, als Napoleon ostwärts Richtung Berlin und Moskau zog; mein Großvater, Friedrich Wilhelm, der Schwarze Herzog, fiel bei Quatre-Bras südlich von Waterloo, als Napoleon im westwärtigen Rückzug Richtung Paris endgültig besiegt wurde. Falls jemand nach dem preußischen König fragt - der feige Hund floh vor den Franzosen Richtung Tilsit, um sich im fernen Ostpreußen zu verstecken. Als stolze Braunschweiger werden wir zu Großvaters Ehren nach Spielschluss das ehemalige Schlachtfeld bei Waterloo aufsuchen.

    Vor unseren Augen, auf dem Schlachtfeld des Mijnstadions, wogt das Spiel gemächlich hin und her, als ein Befreiungspass aus der Abwehr der Belgier vom Halbläufer Schmidt abgefangen wird. Dieser passt nach links zum Winger Dulz, dem seine ehemaligen Mitspieler vom Hamburger SV den Wechsel zur Eintracht offenbar nicht verziehen haben, und ihm im im Bundesliga-Wettstreit beider Mannschaften vor wenigen Monaten das Wadenbein brachen. Damals musste er auf einem Bein humpelnd bis zum Abpfiff durchhalten, doch heute nimmt er auf zwei gesunden Beinen Tempo auf, tritt den Ball Richtung Tor, schickt den Ball ins lange Eck, zur Braunschweiger Führung!

    "JAAA!" ertönt zu meinen Seiten der zweistimmige Torjubel. "Auswärtssieg in Belgien!", ruft Bockelmann. "Wie vor 150 Jahren bei Waterloo! Wie vor 50 Jahren bei Antwerpen!"

    "Bockelmann", fragt der Oberfeld, "wie sagt man auf belgisch 'fünfzig Jahre'?"

    Sekunden nach der Antwort steht der Oberfeld auf seinem Stuhl und skandiert: "EINTRACHT WIEDER DA! NACH VIJFTIG JAAAR!"

    Grummelnd werfen jene in Hörweite sitzenden Belgier, die 1964 minus 50 ohne Abakus ausrechnen können, dem Oberfeld feindlich gesonnene Blicke zu. Im gleichen Moment nehme ich zur Kenntnis, dass auf den benachbarten Stühlen jenseits des Oberfelds in diesem Augenblick unsere belgischen Gastgeber aus dem 'Restaurant de Hert' Platz nehmen. Der Wohlgenährte mit den buschigen Augenbrauen, nun mit leichter Zornesröte im Gesicht, wettert auf Flämisch, wagt es sogar mit seinem Finger vorwurfsvoll in unsere Richtung zu deuten.

    "Verstehen Sie, was dieser ungehobelte belgische Klotz uns sagen will?" frage ich den lauschenden Bockelmann, der sich plötzlich ein Grinsen nicht verkneifen kann.

    "Also wenn ich ihn richtig verstanden habe, verzögerte sich die Ankunft der belgischen Offiziellen im Stadion, weil sie zunächst zu Fuß einen Droschkenstand aufsuchen mussten, nachdem die erste bestellte Droschke mit uns Dreien beziehungsweise die zweite bestellte Droschke mit Hoffert und Graßhof zum Stadion fuhr. Am Stadion angekommen wurden Hoffert und Graßhof vom Ordner am Ehrengastbereich abgewiesen, da wir Drei bereits für die angekündigten Ehrengäste gehalten wurden. Hoffert und Graßhof haben sich vermutlich selber Eintrittskarten gekauft und sitzen nun irgendwo auf dieser Tribüne."

    "Vielen Dank für die Übersetzung, Fräulein Ingrid", sagt der Oberfeld zu Bockelmann, sich wieder auf seinen Stuhl setzend. "Ich hab den dicken Belgier aber ganz anders verstanden", behauptet er, der kaum ein flämisches Wort beherrscht. Die ehrabschneidende Geste des Belgiers imitierend, indem er mit dem Zeigefinger auf Bockelmann deutet, sagt der Oberfeld: "Wieso wurde diesem Hauptmann das Verdienstkreuz Zweiter Klasse verliehen, obwohl er im Großen Krieg nicht einen einzigen Belgier zur Strecke brachte?"

    "Nun höre ich heute schon zum zweiten Mal diese infame Lüge!" reagiert Bockelmann empört. "Kannst von Glück sagen, dass du als einfacher Unteroffizier und als Sohn eines Schweinezüchters nicht satisfaktionsfähig bist. Sonst wäre es jetzt meine Pflicht, dich zum Duell zu fordern!"

    Unterdessen prallt auf dem Kampfacker ein weiterer belgischer Angriff an der blau-gelben Abwehrwand ab. Flink wird der Ball im Gegenzug durchs Mittelfeld getrieben, Hosung leitet den Ball raffiniert weiter in den feindlichen Penalty-Raum, wo der junge Mittelforward Moll zu flink für den ungelenken Mittelläufer ist. Geschickt lässt Moll den Ball, vorbei am sich in den Dreck werfenden belgischen Torkeeper, ins Netz rollen.

    "JAAA!" rufen Bockelmann und der Oberfeld, aus ihren Sitzen springend. Kopfschütteln bei unseren belgischen Nachbarn, für die es sehr demütigend zu sein scheint, diese beiden Braunschweiger Herren erneut auf belgischem Boden siegen zu sehen.

    "Die Belgier werden hier ja regelrecht überrollt", bemerke ich gegenüber Bockelmann. "Gilt die Beistandsgarantie der Briten für Belgien eigentlich noch? Wie Sie sicherlich wissen, garantierten die Briten dem nach den napoleonischen Kriegen gegründeten Belgien militärischen Beistand im Falle eines feindlichen Überfalls."

    "Wie unsere Einheiten vor fünfzig Jahren bei Ypern ja leider feststellen mussten", ergänzt mein Adjutant. "Eigentlich sollte Belgien auf diese Weise ja vor einem erneuten Überfall aus Richtung Paris geschützt werden, weniger vor einem Überfall aus Richtung Berlin oder Braunschweig."

    "Nun bin ich also gespannt, ob diese Beistandsgarantie auch heute noch gilt", setze ich meinen klugen Gedanken fort. "Wir lassen uns mal überraschen, ob in den verbleibenden Minuten noch britische Verstärkung aus dem Spielertunnel kommt, um Belgien zu retten. Zum Beispiel in Form von handverlesenen Recken von den Old Etonians oder Old Corinthians, oder wer auch immer aktuell eine Spitzenmannschaft in England sein mag."

    Kaum noch zehn Minuten bis zum Abpfiff, verrät der Blick auf meine Taschenuhr. Angesichts der für die Gastgeber aussichtslosen Lage ist es recht ruhig geworden im Mijnstadion. Die ersten Zuschauer verlassen das Stadion. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund.

    "Das ist bestimmt ein Malinois, den ich draußen bellen höre", sage ich zu Bockelmann. "Schöne Tiere, diese belgischen Schäferhunde, finden Sie nicht auch?"

    "Gewiss, Hoheit, ein Malinois ist ein feiner Hund. Erinnert Ihr Euch? Die Betreiberin der Villa Marie an der Kanalküste besaß bis zu jenem tragischen Vorfall selber einen Malinois."

    Mit einem gewissen Amüsement beobachte ich Bockelmanns Gesichtsausdruck, als ihm nach wenigen Augenblicken schließlich ein Licht aufgeht:

    "NA UND OB IM GROßEN KRIEG EIN BELGIER DURCH MICH UMS LEBEN KAM!" ruft er aufgeregt ins stille Stadionrund, an den durch seine Unachtsamkeit tödlich verunglückten Malinois denkend. "IK HEB WIRKLICH EEN BELGIER IN DE GROOTE KRIECH DOOD GEMAKT!"

    Im Radius von zehn Stühlen dreht sich jeder Kopf in Bockelmanns Richtung. Doch niemand guckt amüsiert. Meinem Adjutanten entgeht dieser Stimmungswandel unter den Tribünengästen, denn er ist ausschließlich auf die neben ihm sitzenden belgischen Offiziellen fokussiert. Ihnen erklärt er in flämisch-deutscher Melange, wie er, Bockelmann, entgegen aller ehrabschneidenden Unterstellungen, tatsächlich für ein belgisches Kriegsopfer verantwortlich war: Nämlich als er Zouzou, Maries belgischen Schäferhund, Ende 1914 beim Gassigang am Strand bei Ostende frei laufen ließ, und der Unglückliche im seichten Gewässer der Brandung auf eine tödliche Sprengmiene trat. "BUMM! ÜBERALL FETZEN VOM GESPRENGTEN BELGISCHEN HUND!" schildert Bockelmann mit ausladender Armbewegung, für alle im näheren Umkreis gut hörbar. "OVERAL STUKJES VAN DE DODE BELGISCHE HOND!"

    Ein bis zwei Sekunden lang herrscht atemlose Stille in unserem Tribünenbereich.

    Doch dann bricht hier der Trubel aus: Bockelmann, von einem wütenden Belgier geschubst, fällt über zwei leere Stühle, die krachend unter ihm zu Boden poltern. Durch den Sturz verfehlt ihn eine von hinten geworfene Bierflasche, die einen Belgier zwei Reihen vor uns so heftig im Rücken trifft, dass diesem die Mütze vom Kopf fällt.

    "Na endlich mal ein wenig Trallala und Hoppsasa, hier in dieser Gruft der trüben Laune", kommentiert der Oberfeld. "Damit hätten wir ja auch geklärt, warum dieser Platz hier Mijnstadion heißt: Nicht wegen der Kohlemiene, sondern wegen der Sprengmiene über die der arme Zouzou..."

    Den Satz beendet der Oberfeld nicht, weil ihn die Faust des von der Bierflasche getroffenen Belgiers seitlich am Wangenknochen trifft.

    Plötzlich ist der ehemalige Preisboxer und jetzige Vereinsknecht zur Stelle, packt mich und Bockelmann unsanft am Schlawittchen, und zerrt uns - Braunschweigischen Offizieren völlig unwürdig - entlang der Stuhlreihe Richtung Treppe, Richtung Ausgang. Schmährufe begleiten uns, irgendein Belgier spuckt Bockelmann ins Gesicht. Prompt ertönt Jubel, doch diese Gefühlsregung ist wohl dem Umstand geschuldet, dass unten auf dem Acker Beeringen um einen Treffer verkürzen konnte, vermutlich weil nun elf Belgier zusammen mit elf zur Unterstützung herbeigeeilten Briten gegen elf Braunschweiger spielen.

    "Pfui, schämen Sie sich!" vernehmen wir auf Deutsch, als wir gewaltsam ans Ende der Sitzreihe geführt werden. Die Worte sprach Eintrachts Präsident Hoppert, der neben Graßhof auf einem der billigen Plätze nahe des Ausgangs sitzt. "Sie sind eine Schande für unser Land und für unseren Verein!"

    "Lausche Er", antworte ich leicht gebückt, im Schlawittchengriff des Ordners, der mich wie einen räudigen Hund vor sich herschiebt. "Wer kommt denn nach Abpfiff der patriotischen Braunschweigischen Pflicht nach? Wer fährt denn zum Schlachtfeld von Quatre Bras bei Waterloo, um dort eine blau-gelbe Flagge niederzulegen? In Gedenken an meinen gefallenen Urgroßvater, den Schwarzen Herzog? Der feine Herr Hoppert und der feine Herr Graßhof? Oder wir drei langgedienten Veteranen des Husaren-Regiments?"

    "Und wer wird bei Waterloo ein Stück Würfelzucker in Gedenken an Grenadier, dem Pferd des Schwarzen Herzogs, dem Urgroßvater des Herzogs niederlegen?" fragt Bockelmann, dessen Kragen im festen Griff der anderen Pranke des Vereinsknechtes ist. "Sie beide? Oder wir?"

    Am Ausgang, hinter der Tribüne, löst sich endlich der Griff an meinem Kragen, und ein grober Schubser lässt mich zu Boden taumeln, kurz bevor Bockelmann ebenfalls im Staube zu Fall kommt.

    Wir rappeln uns auf, klopfen uns an der rückwärtigen Backsteinfassade der Tribüne den Staub von der Uniform. Eine Minute später erscheint der Vereinsknecht erneut und lässt den Oberfeld mit kräftigem Arschtritt vor unsere Füße stolpern.

    "Bockelmann, wischen Sie sich die belgische Spucke aus dem Gesicht, geben Sie dem Oberfeld ein paar von diesen belgischen Geldscheinen, eilen Sie zum Restaurant und holen Sie unser Puttchen. Oberfeld, richten Sie sich auf und eilen Sie mit den Geldscheinen zum Bierstand zwecks Besorgung von Nachschub."

    Minuten später stoßen ich und der Oberfeld - neben seiner Beule auf der Stirn nun auch zusätzlich durch eine Schwellung entstellt, wo die belgische Faust ihn traf - mit Waterlooer Knochenbier auf einen erneuten Braunschweiger Sieg an.

    "Oberfeld, sind Sie trotz Ihrer bäuerlichen Herkunft des Schreibens mächtig? Dann lassen Sie mich schnell ein paar Zeilen diktieren. Auf dem Weg nach Quatre Bras passieren wir ja bestimmt ein Telegrafenamt."

    Nicht zum ersten Mal am heutigen Tage subversiv mit den Augen rollend zieht der Oberfeld Notizblock und Bleistift aus der Innentasche seines Husarenrocks.

    "An den DFB, Frankfurt", diktiere ich. "Sehr geehrter Herr Präsident. Stop. Es war uns eine große Ehre, den vorzüglichen Verein Eintracht Braunschweig zu Besuch zu haben. Stop. Zwölf charakterlich erstklassige Sportskameraden. Stop. Zudem charakterlich vorbildliche Schlachtenbummler. Stop. Bitte auch in den nächsten Jahren die Braunschweiger Eintracht zum Rappan-Pokal melden. Stop. MfG K Beeringen FC, i.A. Fräulein Ingrid, in Klammern Diplom-Übersetzerin. Haben Sie das?"

    "... Diplom-Übersetzerin, Klammer zu", wiederholt der Oberfeld. "Jawohl, ich hab das alles, Herr Generalmajor."

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